Jim Butcher

Die dunklen Fälle des Harry Dresden: Wolfsjagd

Buchcover Jim Butcher Harry Dresden: Wolfsjagd
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Jim Butcher Harry Dresden: Wolfsjagd
Erscheinungsdatum: Januar 2007
Knaur Verlag, München
ISBN: 3-426-63441-4
ISBN-13: 978-3-426-63441-7
Website des Autors: http://www.jim-butcher.com/

Der zweite Fall des magischen Privatdetektivs Harry Dresden.

1. Kapitel

Normalerweise achte ich nicht weiter auf den Wechsel der Mondphasen. Daher wusste ich auch nicht, dass es eine Nacht vor Vollmond war, als sich im McAnally's eine junge Frau zu mir setzte und mich bat, ihr alles über eine Sache zu erzählen, die sie angeblich umbringen konnte.

"Nein", erwiderte ich. "Kommt überhaupt nicht in Frage." Ich faltete den Zettel mit den drei konzentrischen Kreisen filigraner Symbole zusammen und schob ihn über die Tischpatte aus poliertem Eichenholz zurück.

Kim Delaney runzelte erbost die Stirn und strich sich eine glänzende dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Die junge Frau war groß, wohlproportioniert und auf eine altmodische Art hübsch mit ihrer hellen, schönen Haut und den runden Wangen, die sich oft zu einem Lächeln verzogen. Im Augenblick allerdings lächelte sie nicht.

"Ach, nun kommen Sie schon, Harry", sagte sie. "Es gibt außer Ihnen keinen anderen praktizierenden Berufsmagier in Chicago, niemand sonst kann mir helfen." Sie beugte sich vor und sah mich eindringlich an. "Ich finde nirgends Hinweise auf diese Symbole. Niemand in den Zirkeln in der Umgebung scheint sie zu kennen. Sie sind der einzige echte Magier, von dem ich je gehört habe. Ich will doch nur wissen, was das hier zu bedeuten hat."

"Nein", erklärte ich ihr. "Das wollen Sie nicht wissen. Es ist besser, wenn Sie diese Kreise vergessen und sich mit etwas anderem beschäftigen."

"Aber ..."

Mac winkte mir und schob zwei dampfende Teller auf die polierte, unebene Eichentheke. Als er zwei Flaschen seines selbstgebrauten Brown Ale daneben stellte, lief mir das Wasser im Mund zusammen.

Ein eher unbehagliches Geräusch war dagegen aus Richtung meines Magens zu vernehmen, der fast so leer war wie meine Brieftasche. Ich hätte es mir keinesfalls leisten können, an diesem Abend auszugehen, doch Kim hatte mich eingeladen, weil sie beim Essen mit mir reden wollte. Ein Steak entsprach zwar nicht ganz meinen gewohnten üppigen Portionen, aber ich genoss ihre Gesellschaft, und sie war eine ehemalige Schülerin von mir. Viel Geld hatte sie nicht, doch ich besaß sogar noch weniger als sie.

Trotz meines knurrenden Magens stand ich nicht sofort auf, um die Teller zu holen. (In McAnally's Pub gibt es keine Bedienung. Mac vertritt die Ansicht, wer nicht in der Lage sei, sich das Essen selbst zu holen, habe auch nichts bei ihm zu suchen.) Ich sah mich kurz um und betrachtete die ungemütliche Kombination von niedrigen Decken und träge rotierenden Ventilatoren, die dreizehn geschnitzten Holzsäulen, die dreizehn Fenster und die dreizehn Tische, die bewusst asymmetrisch aufgestellt waren, um die magischen Rückstände aufzulösen und zu verstreuen, die sich manchmal in der Nähe hungriger (sprich: wütender) Magier sammelten. Das McAnally's war ein sicherer Zufluchtsort in einer Stadt, in der niemand an die Magie glaubte. Viele Berufskollegen kehrten hier ein, um etwas zu essen.

"Hören Sie, Harry", sagte Kim, "ich will doch nichts Schlimmes damit anstellen. Ich verspreche es Ihnen. Es geht mir nicht um eine Beschwörung oder einen Bann. Mein Interesse ist rein akademisch. Eine Sache, über die ich mir schon länger Gedanken mache." Sie beugte sich vor, legte ihre Hand auf meine und blickte mir ins Gesicht, ohne mir in die Augen zu sehen. Diesen Trick beherrschen nur wenige derjenigen, die unsere Kunst nicht ausüben. Sie grinste und offenbarte dabei ihre tiefen Grübchen.

Unterdessen knurrte schon wieder mein Magen, und ich blickte sehnsüchtig zum Essen auf der Theke. "Ganz sicher?", fragte ich sie. "Sie wollen es nur wissen, weil Sie neugierig sind? Sie wollen es nicht für irgendwas benutzen?"

"Großes Ehrenwort", bekräftigte sie.

Ich runzelte die Stirn. "Also, ich weiß nicht ..."

"Nun hören Sie schon auf, Harry." Sie lachte mich aus. "Es ist doch wirklich keine große Sache. Wenn Sie es mir nicht sagen wollen, na schön. Ich bezahle trotzdem das Essen, denn ich weiß, dass Sie in der letzten Zeit etwas knapp bei Kasse waren. Genauer gesagt, seit dem letzten Frühjahr."

Darauf schaute ich finster drein, aber es war ja nicht Kims Schuld. Sie konnte nichts dafür, dass Karrin Murphy, die Leiterin der Sonderermittlungseinheit beim Police Department von Chicago und meine wichtigste Auftraggeberin, mich seit mehr als einem Monat nicht mehr als Berater hinzugezogen hatte. In den letzten Jahren hatte ich den größten Teil meines Lebensunterhalts durch meine Tätigkeit als freier Mitarbeiter der Sondereinheit bestritten. Doch nach dem Trubel im letzten Frühling, als ein Schwarzmagier gegen eine Straßenbande um die Kontrolle über den Drogenhandel in Chicago gekämpft hatte, waren die Aufträge von ihrer Seite langsam zurückgegangen - und damit auch mein Einkommen.

Mir war nicht klar, warum Murphy mich nicht mehr so oft hinzuzog. Natürlich stellte ich gewisse Mutmaßungen an, hatte bisher allerdings noch keine Gelegenheit gefunden, genauer nachzufragen. Vielleicht hatte es auch gar nichts mit meinem Verhalten zu tun. Vielleicht lag es einfach daran, dass die Monster in Streik getreten waren. Yeah, aber sicher doch.

Jedenfalls war ich sogar ausgesprochen knapp bei Kasse und ernährte mich schon mehrere Wochen von billigen Nudeln und Suppe. Die Steaks, die Mac gebraten hatte, rochen himmlisch, obwohl sie immer noch auf der anderen Seite des Raumes warteten. Wieder protestierte mein Magen und stieß ein steinzeitliches Knurren aus. Der Höhlenmensch in mir wollte endlich wieder die Zähne in verkohltes Fleisch schlagen.

Leider konnte ich nicht einfach losgehen und das Essen holen, ohne Kim die Informationen zu geben, die sie haben wollte. Nicht, dass ich bei Abkommen stets ehrlich bin, aber Menschen habe ich noch nie übers Ohr gehauen, und ganz sicher niemanden, der zu mir aufschaute.

Manchmal hasse ich es, ein Gewissen und dazu ein ausgesprochen lästiges Ehrgefühl zu haben.

"Also schön, also schön", seufzte ich. "Lassen Sie mich das Essen holen, dann erzähle ich Ihnen, was ich weiß."

Kims runde Wangen bekamen wieder Grübchen. "Danke, Harry. Das bedeutet mir sehr viel."

"Yeah, schon gut", sagte ich und stand auf, um zwischen Säulen und Tischen hindurch zur Theke zu gehen. An diesem Abend waren mehr Gäste im McAnally's als gewöhnlich. Mac lächelte nur selten, aber jetzt strahlte er eine gewisse Zufriedenheit aus und freute sich offensichtlich über den regen Zuspruch. Ein wenig gereizt schnappte ich mir die Teller und die Flaschen. Es ist schwer, sich über den wachsenden Wohlstand eines Freundes zu freuen, wenn das eigene Geschäft gerade den Bach runtergeht.

So kehrte ich mit Steaks, Kartoffeln und grünen Bohnen zum Tisch zurück und setzte mich wieder. Eine Weile aßen wir schweigend - ich düster brütend, sie mit herzhaftem Appetit.

"Also", sagte Kim schließlich. "Was können Sie mir nun darüber erzählen?" Sie deutete mit der Gabel auf den Zettel.

Ich schluckte einen Bissen herunter, trank einen Schluck vom süffigen Bier und nahm die Seite in die Hand. "Nun gut. Das hier ist eine Figur aus der Hohen Magie. Eigentlich sind es sogar drei, eine innerhalb der anderen. Es wirkt so ähnlich wie hintereinander aufgestellte Mauern. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen über magische Kreise erzählt habe?"

Sie nickte. "Entweder der Kreis hält etwas draußen, oder er hält etwas drinnen. Bei magischen Energien oder Wesen aus dem Niemalsland wirkt es meist, aber Menschen können die Kreise durchbrechen und zerstören."

"Richtig", bestätigte ich. "Diese Aufgabe erfüllt der äußerste der drei aus Symbolen bestehenden Ringe. Es ist eine Barriere gegen Geister und magische Kräfte. Diese Symbole - hier, hier und hier - sind die Schlüssel." Ich deutete auf die betreffenden Kringel.

Kim nickte eifrig. "Den äußeren Kreis habe ich verstanden. Was ist mit dem nächsten?"

"Der zweite ist eher eine Barriere für Normalsterbliche. Allerdings bleibt er wirkungslos, solange Sie lediglich kreisförmig angeordnete Symbole benutzen. Sie brauchen noch etwas, Steine oder Edelsteine oder so, was zwischen den Symbolen ausgelegt wird." Ich schob mir wieder einen Bissen Steak in den Mund.

Kim betrachtete mit gerunzelter Stirn erst das Blatt, dann wieder mich. "Wozu soll das gut sein?"

Kim betrachtete mit gerunzelter Stirn erst das Blatt, dann wieder mich. "Wozu soll das gut sein?"

"Ich verstehe", sagte sie aufgeregt. "So etwas wie ein Schutzschirm."

Ich nickte. "Etwas in der Art."

Ihre Wangen glühten vor Aufregung, und ihre Augen strahlten. "Ich wusste es doch. Und der Letzte?"

Ich betrachtete den innersten Kreis und schüttelte den Kopf. "Das ist ein Fehler."

"Was meinen Sie damit?"

"Ich meine, dass es nur Geschwätz ist. Es hat keine Bedeutung. Sind Sie sicher, dass Sie es richtig übertragen haben?"

Kim schnitt eine empörte Grimasse. "Und ob. Ich habe genau aufgepasst."

Nachdenklich sah ich sie einen Augenblick an. "Wenn ich die Symbole richtig deute, handelt es sich um eine dritte Mauer, um Wesen abzuhalten, die zugleich Fleisch und Geist sind. Weder Sterbliche noch Geister, sondern etwas dazwischen."

Sie runzelte die Stirn. "Was sollen das für Wesen sein?"

"So etwas gibt es nicht", sagte ich achselzuckend. Das entsprach der offiziellen Version, denn der Weiße Rat der Magier duldete keine Diskussionen über Dämonen, die auf die Erde gerufen werden konnten, über Geistwesen, die jede beliebige Gestalt annehmen konnten. Normalerweise reichte ein einfacher magischer Kreis aus, um alle außer den mächtigsten Dämonen oder den Älteren Wesen aus den fernsten Regionen des Niemalslandes aufzuhalten. Dieser dritte Kreis aber war für Wesen gedacht, die nicht an solche Grenzen gebunden waren. Es handelte sich um einen Käfig für dämonische Halbgötter und Erzengel.

Kim kaufte mir meine Antwort nicht ab. "Ich verstehe das nicht. Warum sollte jemand einen Kreis zeichnen, um etwas zurückzuhalten, das es nicht gibt, Harry?"

Ich hob beschwichtigend die Hände. "Die Leute verhalten sich nicht immer vernünftig und logisch. Die Menschen sind eben so."

Sie verdrehte die Augen. "Hören Sie doch auf, Harry. Ich bin kein kleines Kind mehr. Sie brauchen mich nicht zu beschützen."

"Und Sie", erklärte ich ihr, "Sie müssen nicht herausfinden, was für Wesen dieser dritte Kreis aufhalten soll. Sie wollen es nicht wissen, glauben Sie mir."

Einen Augenblick lang funkelte sie mich finster an, dann trank sie einen Schluck Bier und zuckte mit den Achseln. "Na gut. Die Kreise müssen aktiviert werden, nicht wahr? Man muss wissen, wie man sie einschaltet - so ähnlich wie einen Lichtschalter, oder?"

"So ähnlich, ja."

"Wie bringt man diesen hier in Gang?"

Ich starrte sie lange an.

"Harry?", fragte sie.

"Auch das müssen Sie nicht wissen. Nicht einmal aus rein akademischem Interesse. Keine Ahnung, was Sie vorhaben, Kim, aber lassen Sie es bleiben. Vergessen Sie es. Bringen Sie sich in Sicherheit, bevor Ihnen etwas zustößt."

"Harry, ich will doch nicht ..."

"Sparen Sie es sich", erklärte ich ihr. "Sie sitzen auf einem Tigerkäfig, Kim." Ich tippte auf das Blatt, um meine Worte zu unterstreichen. "Und Sie würden das hier nicht brauchen, wenn Sie nicht die Absicht hätten, einen Tiger zu fangen."

Ihre Augen blitzten, und sie schob trotzig das Kinn vor. "Sie glauben, ich sei nicht stark genug."

"Mit Stärke hat das nichts zu tun", erwiderte ich. "Sie haben nicht die nötige Ausbildung. Sie verfügen nicht über das erforderliche Wissen. Ich würde von einem Erstklässler nicht verlangen, dass er eine Integralrechnung löst, und so ähnlich sieht es hier aus." Ich beugte mich vor. "Sie wissen nicht genug, um mit solchen Dingen herumzuspielen, Kim. Selbst wenn Sie es wüssten, wenn Sie es schafften, eine voll ausgebildete Magierin zu werden, würde ich Ihnen raten, es zu lassen. Wenn Sie bei dem hier Mist machen, können Sie vielen Leuten wehtun."

"Falls ich die die Absicht hätte, es zu tun, wäre es sowieso meine Sache, Harry." Ihre Augen funkelten vor Zorn. "Sie haben nicht das Recht, so etwas für mich zu entscheiden."

"Nein", erklärte ich ihr. "Ich bin nur dafür verantwortlich, dass Sie die richtige Entscheidung treffen." Ich knüllte den Zettel zusammen und warf ihn auf den Boden. Sie stach mit der Gabel wütend auf ihr Steak ein. Es war eine heftige, böse Geste. "Hören Sie, Kim", sagte ich, "lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie älter sind und mehr Erfahrung haben ..."

"Sie sind nicht viel älter als ich", erklärte Kim.

Unbehaglich rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. "Ich habe eine gründliche Ausbildung genossen und früh begonnen." Allerdings hatte ich keine Lust, weiter über meine magischen Fähigkeiten zu reden, die größer waren, als es man es mir dem Alter und der Ausbildung nach zugetraut hätte. Ich versuchte, das Thema zu wechseln. "Wie läuft es denn mit der Spendensammlung?"

"Überhaupt nicht." Sie lehnte sich müde zurück. "Ich bin es leid, den Leuten Geld aus der Tasche zu ziehen, um den Planeten zu retten, den sie vergiften, oder die Tiere zu schützen, die sie töten. Ich bin es leid, Briefe zu schreiben und für Anliegen demonstrieren, an die niemand mehr glaubt." Sie rieb sich die Augen. "Ich bin einfach nur müde."

"Hören Sie, Kim, versuchen Sie doch, etwas Ruhe zu finden. Und bitte, bitte, experimentieren Sie nicht mit diesem Kreis herum. Das müssen Sie mir versprechen."

Sie warf ihre Serviette auf den Tisch, legte ein paar Geldscheine dazu und stand auf. "Viel Spaß noch beim Essen, Harry", sagte sie. "Und danke für überhaupt nichts."

Auch ich stand auf. "Kim", sagte ich, "jetzt warten Sie doch."

Sie reagierte nicht, sondern stolzierte zur Tür. Ihr Rock pendelte im gleichen Rhythmus wie ihr langes Haar. Sie hatte eine beeindruckende Figur, wie eine antike Statue, und ich konnte fast körperlich spüren, welche Wut sie ausstrahlte. Ein Deckenventilator erbebte und begann zu qualmen, als sie darunter vorbeiging, dann blieb er stehen. Sie eilte die paar Stufen hinauf, verließ den Pub und knallte die Tür hinter sich zu. Einige Gäste sahen ihr nach, dann starrten sie mich neugierig an.

Frustriert setzte ich mich wieder. Verdammt auch. Kim gehörte zu der kleinen Gruppe von Leuten, die ich in der schwierigen Phase, als sie ihre angeborenen magischen Fähigkeiten zu entdecken begannen, angeleitet hatte. Es war ein mieses Gefühl, ihr etwas zu verschweigen, aber sie spielte mit dem Feuer, und das durfte ich nicht zulassen. Ich war verpflichtet, sie in solchen Situationen zu beschützen, bis sie genug wusste, um selbst zu erkennen, wie gefährlich die Angelegenheit war.

Ganz zu schweigen davon, was der Weiße Rat dazu sagen würde, wenn ein Nichtmagier mit mächtigen Beschwörungsringen hantierte. Der Weiße Rat ließ bei solchen Dingen nichts anbrennen, sondern griff entschlossen ein, wobei ihm die Unversehrtheit und das Leben der Zivilisten nicht immer das wichtigste Anliegen waren.

Jedenfalls hatte ich mich korrekt verhalten. Es war besser, Kim derartige Informationen zu vorzuenthalten. Ich hatte sie vor Gefahren bewahrt, die sie nicht einmal völlig begreifen konnte.

Ja, ich hatte richtig gehandelt, auch wenn sie darauf vertraut hatte, dass ich ihr Antworten gab wie früher, als ich ihr geholfen hatte, ihre bescheidenen magischen Fähigkeiten zu bändigen und zu kontrollieren. Sie hatte gehofft, ich könne sie durch die Dunkelheit lotsen.

Meine Entscheidung war berechtigt gewesen.

Verdammt.

Ich bekam Sodbrennen. Steak hin oder her, ich wollte Macs köstliches Gericht nicht mehr aufessen, weil ich das Gefühl hatte, es nicht verdient zu haben.

Während ich das Ale trank, wälzte ich düstere Gedanken. Irgendwann wurde die Tür wieder geöffnet, doch ich war viel zu sehr mit Trübsalblasen beschäftigt - dem liebsten Zeitvertreib aller Magier -, um darauf zu achten. Dann fiel ein Schatten auf meinen Tisch.

"Da sitzt er und schmollt", sagte Murphy. Sie bückte sich, hob abwesend den zusammengeknüllten Zettel auf, den ich vorher weggeworfen hatte, und steckte ihn sich lieber in die Manteltasche, als den Müll auf dem Boden liegen zu lassen. "Das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich, Harry."

Ich schaute zu ihr auf, was nicht sonderlich schwierig war, denn Karrin Murphy maß kaum mehr als einsfünfundfünfzig. Sie hatte sich das vorher schulterlange blonde Haar erheblich kürzer schneiden lassen, vorn ein wenig länger als hinten. Dadurch sah sie jetzt ein bisschen aus wie ein Punk, und mit den blauen Augen und der Stupsnase war sie sehr attraktiv. Sie trug dem Wetter entsprechende Freizeitkleidung - dunkle Jeans, Flanellhemd, Wanderschuhe und eine dicke Holzfällerjacke. Die Polizeimarke hatte sie an den Gürtel gehakt.

Murphy war ausgesprochen niedlich für eine erwachsene Frau, die einen Schwarzen Gürtel in Aikido besaß und bei der Polizei von Chicago mehrere Schießwettbewerbe gewonnen hatte. Doch sie war ein Profi, hatte hart gekämpft und sich bis zum Rang eines Lieutenant hochgearbeitet. Dabei hatte sie sich natürlich auch Feinde gemacht, und einer davon hatte dafür gesorgt, dass sie nicht lange danach zur Leiterin der Sondereinheit ernannt worden war.

"Hallo, Murphy", antwortete ich und trank einen Schluck Bier. "Lange nicht gesehen." So sehr ich mich auch bemühte, gleichmütig zu antworten, ihr entging sicher nicht, wie wütend ich war.

"Hören Sie, Harry ..."

"Haben Sie den Leitartikel der Tribune gelesen? Den Bericht, in dem Sie kritisiert werden, weil Sie das Geld der Steuerzahler dafür verschwenden, ein ... Scharlatan-Medium namens Harry Dresden' zu beschäftigen? Sicher haben Sie den gelesen, denn seit er erschienen ist, habe ich nichts mehr von Ihnen gehört."

Sie rieb sich den Nasenrücken. "Dafür habe ich jetzt keine Zeit."

Das war mir herzlich gleichgültig. "Nicht, dass ich Ihnen einen Vorwurf mache. Ich meine, es gibt ja nicht viele brave Steuerzahler in Chicago, die an Magie oder Zauberer glauben. Und nicht viele haben gesehen, was wir beide zu Gesicht bekommen haben. Sie wissen schon, als wir zusammengearbeitet haben. Als ich Ihnen das Leben gerettet habe."

Sie kniff die Augen leicht zusammen. "Ich brauche Sie. Wir haben da einen Fall."

"Sie brauchen mich? Wir haben seit mehr als einem Monat nicht mehr miteinander geredet, und auf einmal brauchen Sie mich? Ich habe ein Büro mit Telefon und allem, was dazugehört, Lieutenant. Sie müssen mich nicht hier beim Essen behelligen."

"Ich werde den Täter bitten, sich beim nächsten Mord an die üblichen Bürozeiten zu halten", sagte Murphy. "Aber jetzt brauche ich Sie erst einmal, um ihn aufzuspüren."

Stirnrunzelnd richtete ich mich auf. "Es gab einen Mord? Etwas, dass in meinen Bereich fällt?"

Murphy lächelte humorlos. "Ich hoffe, Sie haben nichts Wichtigeres vor."

Ich biss die Zähne zusammen. "Nein, ich bin bereit." Ich stand auf.

"Schön", sagte sie, drehte sich um und marschierte zum Ausgang. "Wollen wir dann?"


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